Links liegt immer das Meer. Mal ist es ganz nah, mal geht es auf Distanz. Manchmal spielt es Verstecken, um wenig später wieder in ganzer Schönheit zu unseren Füßen zu liegen. Der Ostseeküstenradweg ist wohl einer der abwechslungsreichsten Radwege, die man nehmen kann. Ein besonders spannendes Stück liegt zwischen Wismar und Warnemünde – 85 Kilometer, machbar in zwei oder drei Tagen.
Wo ist eigentlich das Wasser? Von wegen: Radeln mit Meerblick! In Wismar ging es los, doch nach den ersten Kilometern erscheint der Ostseeküstenradweg als reinste Mogelpackung. Keine Ostsee, keine Küste, und Radweg – naja, man kann es auch schlicht Straße nennen, worauf wir uns gerade abrackern.
Doch kaum sind wir zehn Kilometer geradelt, schon wissen wir warum. Nach links geht es über den Damm auf die Insel Poel, die sich über fast 40 Quadratkilometer in der Ostsee lang macht und dabei auf der Landkarte den Umriss eines Gorillas mimt, der sich auf die Arme stützt.
Auf einem separaten Radweg neben der Fahrbahn radeln wir rüber auf die Insel, und das ist gut, denn die Landschaft verleitet ständig zum Anhalten. Manche sagen, der Weg nach Poel sei fast schöner als die Insel selbst. Tatsächlich können wir uns kaum satt sehen an diesem Land zwischen Wasser und Meer, von Vögeln aller Art bevölkert. Zum ersten Mal wird das Fernglas gezückt.
Picknick auf Poel
Über Kirchdorf, dem Hauptort der Insel, geht es weiter nach Timmendorf mit seinem Leuchtturm. „Flaches Land“, soll der Name der Insel ursprünglich im Slawischen bedeutet haben. Andere sagen, „Poel“ stamme von Phol, dem germanischen Gott des Lichts. Platt oder lichtgeflutet – beides passt an diesem Morgen. Der Raps blüht und das flache Land leuchtet, als hätte es die Sonne auf die Erde geholt.
An ihrem äußeren Rand umfahren wir die Insel. Ständig müssen wir anhalten, denn herrliche Rastplätze und schöne Strände reihen sich hier aneinander auf wie Bernsteine an einer Kette. Hinter dem sehr belebten Seebad Schwarzer Busch geht es oberhalb der Steilküste entlang. Der Blick schweift durch die Bäume direkt auf das Meer, das von hier oben betrachtet eine ganz besondere Tiefe hat.
Am Strand von Gollwitz lassen wir Schuhe und Räder am Strand und schleppen Decke und Snacks ein paar Meter durch knietiefes Wasser, um auf der herrlichen Sandbank ein Picknick zu machen. Danach legen wir uns in das warme, flache Wasser wie in eine Badewanne und möchten am liebsten den ganzen Tag hier bleiben. Langweilig wird es sicher nicht, denn rechterhand liegt die Vogelschutzinsel Langenwerder – da ist prima Vogelkieken. (Wie man die verbotene Insel trotzdem betreten kann, steht hier.)
Doch irgendwann raffen wir uns auf. Wir kraulen dem Gorilla kartografisch den Nacken, bevor es wieder runter geht von der Insel und weiter Richtung Norden. Am Salzhaff führt der Weg entlang, Lebensraum für zahlreiche Küstenvögel und somit ein Paradies für Vogelgucker. Das Fernglas wird nun häufiger aus der Tasche geholt. Irgendwann lassen wir es einfach um den Hals baumeln. Dass es beim Radeln stört – geschenkt.
Vor der verbotenen Insel Wustrow
In Rerik, unserem Etappenziel für den Tag, richten wir es dann auf ganz andere Objekte aus: auf die Militärbauten, die hinter einem hohen Zaun malerisch verfallen. Es sind die Reste der Gartenstadt, die Reformarchitekt Heinrich Tessenow einst für die Offiziere und Mitarbeiter der Flakartillerieschule entwarf. Später wurden die Bauten von der Sowjetarmee genutzt, in den 1990ern zog sie ab.
Andere Hinterlassenschaften der früheren Nutzer sind weniger gut sichtbar als die Ruinen: die Munition im Boden. Sie ist der Grund, warum die „verbotene Halbinsel Wustrow“ lange komplett gesperrt und heute auch nur auf geführten Touren zu besuchen ist. 300 von 1000 Hektar sind erst geräumt. Die restlichen 700 stehen unter Naturschutz – 90 Brutvogelarten nisten hier, 25 davon stehen auf der Roten Liste vom Aussterben bedrohter Arten.
Müde radeln wir für eine Stärkung in den Hafen und für einen Sundowner an den Strand. Ins Bett geht es mit vielen Bildern im Kopf, und mindestens genauso vielen Kilometern in den Beinen.
In aller Früh fahren wir am nächsten Morgen weiter. Wir sollen immer mal rechts über die Felder schauen, hatte man uns als Tipp auf den Weg mitgegeben. Damit wir den Urdolmen von Neu-Gaarz ja nicht verpassen. Der ist nämlich ein ganz besonders imposantes Großsteingrab aus der Jungsteinzeit. Und, wie wir schließlich feststellen, ziemlich fotogen.
Abkühlung in Kühlungsborn
Wir erreichen Kühlungsborn, das größte Seebad Mecklenburgs. Lang ist der Ort allemal. Nämlich gut drei Kilometer von einem Ende zum anderen. Kaum ein Ostseebad zieht sich so in die Länge wie Kühlungsborn, diesem erst Anfang des letzten Jahrhunderts aus drei Dörfern vereinten Städtchen.
Und groß ist vor allem der Stadtwald, der mitten im Ort liegt: Ein mal eineinhalb Kilometer misst er, 133 Hektar. Ein richtiger Wald ist es mit Wanderwegen und Wegweisern, mit Rastplätzen und Lichtungen, mit aufgetürmten Baumstämmen und kleinen Wasserläufen – und sorgt fern der Promenade für Abkühlung. Als plötzlich ein Reh im Rasen steht und mit seinen großen schwarzen Augen überrascht herüberschaut, können wir kaum glauben, eigentlich mitten in der Stadt zu sein.
Doch selbst der große Stadtwald ist bald vorbei und Kühlungsborn zeigt sich von seiner trubeligen Seite. Vorbei geht es an Sportplätzen, Marina und großen Hotelanlagen, sogar ein Strandkorbkino gibt es hier. Die Vorstellungen beginnen erst nach Einbruch der Dunkelheit, doch schon die Kulisse ist filmreif.
Hinter Kühlungsborn wird der Radweg zum Traum. Parallel zum Meer, auf einer Steilküste führt er Richtung Heiligendamm. Jetzt hören wir nicht nur das Meer rauschen, sondern auch den Molli pfeifen, die alte Dampflok, die Kühlungsborn mit Bad Doberan verbindet. Man könnte sich mit dem Molli messen und neben seinen Gleisen radeln, doch wir bleiben dem Ostseeküstenradweg treu.
Verwunschene Villen in Heiligendamm
In Heiligendamm, erstes deutsches Seebad und spätestens seit dem G8-Gipfel 2007 weltberühmt, rollen die Räder zu den schönen Villen am Strand. Sie sind noch älter als der Molli – wurden aber lange nicht so gut gepflegt. „Die weiße Stadt am Meer“, sie trägt hier und da ein verwahrlostes Seniorengrau – Fassaden bröckeln, Scheiben splittern, ein Paradies für Lost-Place-Hunter.
Doch die ersten Villen sind schon saniert, bald soll die „Perlenkette“, wie die sieben Villen am Strand genannt werden, genauso strahlen wie das Grand Hotel. Wir laufen einmal die schmucklose Seebrücke entlang, werfen vom Wasser aus einen Blick auf das edle Ensemble in Weiß. Dann fahren wir weiter.
Kein Grusel im Gespensterwald
In Nienhagen erwartet uns der Gespensterwald. Wir haben schon viel davon gehört und sind entsprechend gespannt. Doch schnell müssen wir feststellen: Jeder andere Wald ist besser darin, einem Wanderer das Fürchten zu lehren. Freundlich bescheint die Sonne den Weg, beruhigend plätschert rechterhand die Ostsee – und diese bizarr geformten Bäume, in denen so mancher Gespenster sieht? Sie stehen da wie verträumte Wesen, die Hände in unschuldiger Geste erhoben, als wollten sie sagen: „Wir tun dir nichts.“
90 bis 170 Jahre alt sind die Bäume – Buchen vor allem, daneben Eichen und Eschen –, und sie haben über Jahrzehnte gelernt sich wegzuducken vor Wetter und Wind: den Stamm gekrümmt, die Kronen landeinwärts geneigt, die Äste oft verschlungen verdreht. Natürlich, wenn sich der Nebel zwischen die Baumstämme legt und die Dunkelheit in den verhuschten Zweigen verfängt – dann glaubt man hier vielleicht tatsächlich an Gespenster. Doch der Himmel ist blau wie Schlumpfeis und der verdrehte Wald – einfach nur unheimlich schön.
Wir machen so viele Bilder, wie wohl auf der ganzen Reise nicht. Dann geht es Richtung Strand und zurück. Doch dann stockt uns plötzlich doch noch der Atem: Da liegt ein gefallener Stamm quer über dem Weg, mit direkt am Korpus abgesägten Ästen. Wasserleichenblass glänzt die Rinde, die Stümpfe lenken die Fantasie ins Horrorfach. Da jagt einem dann doch ein sanfter Schauer über den Rücken.
Etwas mehr als 10 Kilometer ist bis Warnemünde, unserem Ziel. Dort angekommen, lassen wir uns am breitesten Strand Mecklenburg-Vorpommerns in den Sand plumpsen und strecken die Beine genüsslich aus. Angekommen. Endlich!
Informationen
Der Ostseeküstenradweg ist insgesamt 1140 km lang, das schafft man in etwa 15 Tagen. Für diesen Abschnitt von 85 Kilometern sollte man mindestens drei Übernachtungen einplanen: in Wismar und Warnemünde sowie eine oder zwei unterwegs, etwa in Rerik (50 Kilometer sind es von Wismar bis Rerik, 35 Kilometer von Rerik bis Warnemünde). Der Weg ist gut ausgeschildert und in der Regel sehr gut beschaffen. Mehr Infos über den Ostseeküstenradweg und eine detaillierte Karte gibt es hier.
Warum sich Wismar auch für einen längeren Aufenthalt lohnt? Das lest Ihr hier.
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Buchtipp:
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