Gebaut als gigantische Anlegestege für Schiffe haben sich Seebrücken in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt: nicht nur in Design und Form, sondern auch in ihrer Funktion. Beobachten lässt sich dies in Koserow – und anderswo.
Wenn auf der neuen Seebrücke in Koserow immer mittwochs die Glocken erklingen, um an die Legende der hier versunkenen Stadt Vineta zu erinnern, gedenken sie nicht nur einer wagen Vergangenheit – sie läuten offenbar auch neue Zeiten ein. Denn mit den Seebrücken, wie man sie sonst von der Küste kennt, hat die geschwungene Konstruktion mit den lässigen Sesseln in Muschelform, den Logenplätzen zum „Sonnenuntergangskino“ und dem filigranen Glockenturm nur wenig gemein. Kann man das überhaupt noch Seebrücke nennen?
Zugegeben, der Begriff hat noch nie so richtig gepasst. Denn während Brücken immer irgendetwas verbinden, führen Seebrücken geradewegs ins Nichts. Immerhin: Seitlich können Schiffe anlegen. Aus diesem Grund wurden sie in der Kaiserzeit überhaupt erst gebaut: als Bootssteg in XXL, als maritime Bahnhöfe für an- und abreisende Badegäste der neuen Seebäder an der Küste.
Das Unglück von Binz
Es war viel los in dieser ersten Hochzeit der Seebrücken. Mehr als 1000 Menschen standen an jenem Unglückstag vor 111 Jahren in Binz auf der über 500 Meter langen Seebrücke, als der Brückenkopf unter der Last zusammenbrach und fast 100 Menschen in die Ostsee stürzten. 17 Menschen starben – weil sie nicht schwimmen konnten oder ihre weiten Kleider sie in die Tiefe zogen.
Andere Brücken – damals noch ganz aus Holz gebaut – fielen Fluten, Stürmen oder Eismassen zu Opfer. Im harten Winter 1941/42 wurden gleich mehrere Seebrücken zerstört, darunter die in Ahlbeck, Koserow, Kühlungsborn und Boltenhagen. Was stehen blieb, wurde in der DDR zerlegt. In den Holzstegen Richtung Horizont sahen die Funktionäre wohl Wegweiser in den Westen, zumindest aber ein „schwer einsehbares Gebiet“ – die bröckelnden Bauten wurden gesprengt oder dem Verfall überlassen.
Bauwelle in den Siebzigern
Im Westen hingegen gab es in den 1970er-Jahren einige Neubauten: So wurde 1976 die Maritim Seebrücke in Timmendorfer Strand eingeweiht, 1979 bekamen Großenbrode und Dahme neue Stege. Zehn Jahre später wurden auch im Osten neue Seebrücken denkbar: Mit dem Fall der Mauer und der politischen Öffnung in sämtliche Richtungen wurden Brücken hier wieder en vogue – und damit auch die Seebrücken an der Küste.
Millionen wurden ab 1990 in Mecklenburg-Vorpommerns Seebrücken investiert. Allerorts schossen die Stege aufs Meer. Meistens schlicht – so in Bansin (1990), Kühlungsborn (1991), Lubmin, Boltenhagen, Rerik (alle 1992) oder Graal-Müritz, Zinnowitz und Zingst (alle 1993) – zuweilen mit Extras: So bekam Heringsdorf 1995 nicht nur die längste deutsche Seebrücke, sondern auch eine kleine Ladenzeile auf halbem Weg und ein Restaurant mit Pyramidendach ans ausladende Ende.
Schon ihr Vorgänger, die 500 Meter lange Kaiser-Wilhelm-Brücke, trug Restaurants und Geschäfte. Im Seebad nebenan kann man noch heute sehen, wie Seebrücken einst aussahen: Vier Türmchen krönen den nostalgischen Holzbau am Anfang der Ahlbecker Seebrücke, Baujahr 1882, in dem sich heute wie gestern ein Lokal befindet. Es ist Deutschlands älteste erhaltene Seebrücke.
Auch in Sellin krönte Anfang des 20. Jahrhunderts ein imposantes Restaurant den Brückenkopf. Bis in die 1970er wurde es als Tanzlokal genutzt, dann aber abgerissen. Beim Wiederaufbau in den Neunzigern nahm man die Vorgängerbauten zum Vorbild – laut Reiseportal Holiday Express zählt die Selliner Seebrücke heute zu den sieben schönsten Hochzeitslocations der Welt. Schöner heiratet man angeblich nur in Südafrika, Neuseeland und auf den Malediven.
Upgrade mit Tauchglocke
Zweifellos hoch aber ist der touristische Nutzen einer Seebrücke, die nicht nur Steg, sondern nebenbei auch Sehenswürdigkeit ist. So manches Seebad pimpte Anfang des Jahrtausends seine Brücke daher ein wenig auf. Am einfachsten ging das offenbar mit einer Tauchgondel, in der man trockenen Fußes in die trübe Unterwasserwelt der Ostsee gleitet. Gleich vier Seebrücken setzten sich so eine Gondel ans Ende ihrer Brücke: Zinnowitz (2006), Grömitz (2009), Zingst (2013) und selbst Sellin (2008).
Wer neu baute, ging die Sache komplett anders an. Seit 2004 krönt das ehemalige Fischerdorf Hohwacht die sogenannte „Hohwachter Flunder“: eine Seeplattform in Form des Plattfischs, mit einem schon von weitem sichtbaren 24 Meter hohen Stahlpylon, der wie ein schiefer Mast eines Großseglers wirkt. Drei Jahre später feierte Kellenhusen seine neue Seebrücke, die nach Einbruch der Dunkelheit in wechselnden Farben leuchtet.
Weitere Highlights: die fest installierten Hängematten, eine Badeinsel sowie eine überdachte Aussichtsplattform. 2012 eröffneten die Seebrücke Heiligenhafen (die im Zickzackkurs übers Meer führt) sowie die Seeschlösschen-Brücke in Timmendorfer Strand (mit einem Café im Stil eines japanischen Teehauses). Seit 2014 wartet die Seebrücke in Niendorf mit einem hydraulischen Badesteg, der direkt ins Wasser abgesenkt werden kann, sowie einem Kinderspielplatz auf.
Abstand gewinnen
Aber ist das alles wirklich nötig? Tatsache ist: Seebrücken sind auch ohne Extras schon lange mehr als nur lange Stege ins Meer. Sie sind mentale Anker. Nicht ohne Grund führt der erste Gang im Urlaub oft rauf auf die Seebrücke, die heute eine ganz besondere Brückenfunktion bedient: Sie markiert den Übergang vom Alltag zur Auszeit. Sie hilft, Abstand und und eine neue Sicht auf die Dinge zu gewinnen.
Dafür braucht es Muße. Und es braucht Platz zum Verweilen: ob Bänke, Hängematten, Liegestühle oder – wie in Koserow – drehbare Muschelsessel. Mit diesem Ansatz und nicht zuletzt ihrer aufregenden Architektur treffen die neuen Verweilbrücken einen Nerv: Ging man in der Planung der Koserower Brücke noch von 180 000 Besuchern im Jahr aus, waren es allein 2021 Schätzungen zufolge bereits 600 000.
Nötig wurde die neue Brücke in Koserow übrigens, weil der Bau aus den frühen Neunzigern marode geworden war und abgerissen werden musste. Kein Einzelfall: Die Boomer-Brücken kommen jetzt alle in die Jahre. Manche ist daher schon wegen Baufälligkeit gesperrt. So darf seit 2016 niemand mehr auf die Brücke in Sassnitz. Seit vier Jahren ist die Brücke in Rerik gesperrt. Früher oder später steht also jedes Bad mit Brücke vor der Frage: Sanierung oder Neubau? Teuer ist beides.
Neubau kaum teurer
In Koserow sollte das Team um Bauingenieur Bernd Opfermann (siehe auch Interview) zunächst nur die alte Brücke sanieren. Doch dann zeigte er auf, dass ein Neubau kaum teurer wäre. Auch anderswo wird lieber Altes durch Neues ersetzt: In Timmendorfer Strand weicht die Seebrücke aus dem Jahr 1976 einer riesigen Schleife über dem Meer. In Prerow wird eine neue Brücke gigantische 700 Meter lang und das Festland mit dem neuen Inselhafen verbinden. Im nächsten Jahr soll die neue Anlage eröffnet werden.
Dann sind vielleicht auch die Neubauten in Scharbeutz und Haffkrug fertig, die hier jeweils die 40 Jahre alten Vorgängerbrücken ersetzen – über Webcams lassen sich die Bauarbeiten verfolgen. Sie verlaufen langsamer als geplant: Durch Lieferschwierigkeiten kam es zu Verzögerungen. Überhaupt ist fraglich, ob der Bauboom anhält. Krieg und Krise sind nicht förderlich für Förderungen und ohne diese geht es in der Regel nicht. Aber träumen darf man ja – und dazu laden die neuen Brücken allemal ein.
jes.
Weiter lesen: Interview mit dem Seebrückenbauer Bernd Opfermann
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